Start :: Informationen :: Prof. Wassilij Borisowitsch Nesterenko
von Herbert Brückner, Senator a.D.
Bremer Friedenspreis 2005
der Stiftung Die Schwelle, für beispielhaftes Engagement
für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung.
- Bereich: Öffentliches Wirken -
[Quelle]
Im Mittelpunkt meiner kurzen Ansprache steht der Name NESTERENKO, aber gleich dahinter steht ein 2. Name: TSCHERNOBYL.
Tschernobyl ist der Name jenes Ortes in der Ukraine, in dem vor fast 20 Jahren, am 26.4.1986, im Block IV des dortigen Atomkraftwerkes im Rahmen eines Experiments eine Kernschmelze und danach mehrere Explosionen eintraten. Tschernobyl ist seitdem weltweit bekannt und steht synonym für KATASTROPHE.
Wassilij Nesterenko ist der Name des weißrussischen Kernphysikers, der in den Tagen gleich nach der Nuklearkatastrophe - und der seit 1986, trotz politischer und behördlicher Widerstände, engagiert gegen die ökologischen und gesundheitlichen Folgen dieser Katastrophe und der Atomenergie insgesamt kämpft.
Dieser Name ist bei uns viel weniger bekannt - er steht für ZIVILCOURAGE.
Deshalb gilt zunächst mein Dank der Stiftung “Die Schwelle” für die Vergabe des Bremer Friedenspreises 2005 – in der Kategorie “Öffentliches Wirken” – an Herrn Professor Wassilij Nesterenko. Sie ist eine Auszeichnung für ungewöhnliches und beispielhaftes Engagement, das in besonderer Weise die Ziele der Stiftung Schwelle, nämlich “Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung” verwirklicht.
Indem wir damit das Wirken von Wassilij Nesterenko in den Mittelpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit stellen, ist diese Preisvergabe – über die persönliche Auszeichnung hinaus – auch eine immens politische Entscheidung.
Sie ist nämlich in gewisser Weise auch ein Gegenstück zu der Verleihung des Friedensnobelpreises dieses Jahres an die IAEO, der internationalen Atomenergiebehörde zur Förderung der friedlichen Nutzung der Atomenergie. Es handelt sich bei der IAEO um eine schon 1956 gegründete selbständige UN-Organisation mit dem Auftrag: “den Beitrag der Atomenergie zum Frieden, zur Gesundheit und zum Wohlstand auf der ganzen Welt rascher und in größerem Ausmaß wirksam werden zu lassen.” Dabei soll sie aber auch sicherstellen, “dass die von ihr geleistete Hilfe nicht zur Förderung militärischer Zwecke verwendet wird.”
Also: Eine in der Atemenergie-Euphorie der 50iger Jahre gegründete Organisation – die heute so etwas ist wie eine Lobby-Organisation der Nuklearindustrie – erhält – trotz Tschernobyl – den Friedens- Nobelpreis. Sicherlich gab es auch taktische Erwägungen wegen der Verhandlungen gegen die Herstellung von Atomwaffen im Iran und vielleicht wollte man auch personellen Entscheidungen beeinflussen, aber mit der Nobelpreisvergabe an die IAEO wurde eindeutig der atomare Bock zum Friedensgärtner gemacht. Zumal diese Organisation schon seit Jahren die Folgen von Tschernobyl herunterspielt, falsche Zahlen über die Opfer verbreitet und behauptet, diese Reaktor-Explosion hätte keine schwerwiegenden negativen Folgen für die Bevölkerung gehabt und es wurde – Zitat – “keine weit reichende, radioaktive Verseuchung festgestellt, die eine ernste Bedrohung für die menschliche Gesundheit darstellen würde.”
Damit sind wir wieder bei Professor Nesterenko, der sich gerade diesen Folgen für die menschliche Gesundheit zugewendet hat. Und deshalb steht sein Name mit Recht heute im Mittelpunkt und deshalb ist die Preisvergabe an ihn sowohl eine ganz persönliche Ehre und Auszeichnung, aber zugleich auch ein wichtiges politisches Signal.
Wer ist Professor Nesterenko?
Borisowitsch Wassilij Nesterenko wurde am 2. 12. 1934 im ukrainischen Gebiet Lugansk in der Siedlung Krasny Kut in der Sowjetunion geboren. Er ist heute weißrussisicher Staatsbürger und arbeitet in Minsk. Er studierte an der Moskauer Staatlichen Technischen Universität, 1968 wurde er Doktor der technischen Wissenschaften und 1969 Professor. Die Hauptrichtung seiner wissenschaftlichen Arbeiten war das Thema der Kern- und Strahlensicherheit, dazu verfaßte er mehrere Hundert wissenschaftliche Arbeiten. Von 1977 bis 1987 war er Direktor des Instituts der Kernenergetik der Akademie der Wissenschaften der Republik Belarus in der UDSSR. Von 1987 an begannen die Täigkeiten – sehr verehrter Herr Professor Nesterenko – für die Sie heute mit dem Bremer Friedenspreis geehrt werden. Genau genommen, begann es schon am 30.4.86 als gleich nach dem Reaktorunfall Ihr Vorschlag, die Kinder aus den südlichen Regionen umzusiedeln und eine sofortige Jod-prophylaxe durchzuführen, von der Politik und den Behörden abgelehnt wurde.
Später haben Sie den Tag der Reaktorunfalls als den entscheidenen Einschnitt in Ihrem Leben bezeichnet mit dem Satz: “Tschernobyl war nicht nur eine Katastrophe für die Welt, sondern auch meine persönliche Lebenskatstrophe. Ich hatte für die Atomkraft gelebt, aber sie wird immer zu gefährlich sein.”
Sie haben sich nach der Katastrophe im Block IV von Anfang an um die Menschen gekümmert. Mit Ihren Mitarbeitern haben sie eine möglichst genaue Abschätzung der radioaktiven Situation vorgenommen und entsprechende Karten der Verseuchung des Territoriums der umliegenden Gebiete erstellt. Zunächst waren Sie tätig als Leiter des Strahlensicherheitslabors, dann als Direktor von “Radiometer” – einem neugegründeten “Zentrum für Strahlensicherheit” , das 1992 in das nichtstaatliche Institut für Strahlensicherheit “Belrad” umgewandelt wurde. Mit diesen Instituten haben Sie ein gesellschaftliches Netz der örtlichen Meßstellen zur radioaktiven Kontrolle der Lebensmittel in der Bevölkerung aufgebaut – zeitweise waren es 370 Meßstellen. Dabei ging es Ihnen nicht um wissenschaftliche Zahlenreihen und Statistiken, sondern um den Schutz der Bevölkerung. Sie und ihre Mitarbeiter waren weniger als Wissenschaftler denn als humanitäre Helfer unterwegs, um vor Ort in den betroffenen Dörfern mit den Menschen zu sprechen, ihnen Wissen und Praktiken zu vermitteln, um sich vor Strahlenbelastung zu schützen oder sie zu mindern. So werden z. B. Lehrerinnen zu Multiplikatoren ausgebildet, die vor Ort die Lebensmittel der Menschen messen und aufgrund der Ergebnisse konkrete Handlungsvorschläge mit den Menschen diskutieren, wie sie durch Zubereitung und Weiterverarbeitung von Lebensmitteln die Strahlenbelastungen – insbesondere bei Cäsium 137 und Strontium 90 – reduzieren können. So wurden die Menschen aus der lethargischen Haltung “man kann ja doch nichts tun” – “radioaktive Strahlen kann man ja nicht sehen oder fühlen” – herausgeholt und konnten durch Information und Beratung konkrete Handlungen bei der Essenszubereitung, bei der Auswahl der Plätze bei Pilzen und Beeren oder beim Gemüseanbau erlernen, mit denen sie sich selbst – und vor allen Dingen ihre Kinder - vor zusätzlichen Strahlenbelastungen schützen konnten. Für manche Dörfer wurden regelrechte “Strahlenkarten” für die nähere Umgebung angelegt. Jahreszeitlich und regional bezogene besondere Belastungen oder besondere Schutzmöglichkeiten konnten auf diese Weise vermittelt werden. Die Voraussetzung für diese humanitäre Beratungsarbeit für Strahlenschutz – übrigens auch mit Videofilmen und Elternheften an Schulen – waren die Meßstellen und die Messergebnisse.
24 solcher Meßstellen werden finanziell von Tschernobyl- und anderen Initiativen aus dem Westen unterstützt. Und so will ich an dieser Stelle ausdrücklich die Bremer Tschernobyl-Initiative Huchting und die Bremer Schulen Hermannsburg und Willakedamm loben, die sich in einer Partnerschaft mit Professor Nesterenko und Schulen in Weißrussland an dieser wichtigen Aufgabe beteiligen.
Natürlich geriet Professor Nestorenko mit seiner Arbeit und der damit verbundenen Kritik an den staatlichen Stellen über deren Umgang mit den Folgen von Tschernobyl in Konflikt mit Behörden und der Politik. Ein offener Brief an Gorbatschow, den Sie 1989 gemeinsam mit 92 Ärzten verfassten, gegen die Verschleierung der Folgen der Tschernobyl-Katastrophe für die Gesundheit der Menschen trug genauso dazu bei, wie Ihre konkrete Beratungsarbeit vor Ort. Die staatlichen Meßstellen mit denen Sie kooperierten, wurden Ihnen weggenommen und die meisten davon geschlossen. Die Folgen von Tschernobyl waren nach staatlicher Darstellung ja völlig übertrieben, die Umsiedlungen seien ein Fehler gewesen und die Nennung von gesundheitlichen Gefahren seien einfach Schwarzmalerei. Behördliche Schikanen sollten Ihre Arbeit erschweren, zwei mysteriöse Autounfälle nach öffentlichen Auftritten legen nahe, dass auch Anschläge auf Ihr Leben verübt wurden. Ein Kollege von Ihnen – Prof. Jurij Bandazhewsky – wurde diffamiert, dann unter Korruptionsverdacht festgenommen und zu 8 Jahren Arbeitslager verurteilt.
Trotz Kritik, Schikanen und Bedrohungen haben Sie Ihre Arbeit unbeirrt und mit großem Erfolg fortgesetzt. Vielleicht halfen Ihnen dabei auch die vielen internationalen Kontakte, die Sie aufgebaut hatten; vielleicht auch die vielen Orden und Ehrungen, die Sie als verdienter Wissenschaftler vorher vom Staat erhalten hatten.
Auf jeden Fall aber half Ihnen Ihre Überzeugung von der Zielsetzung der Aufgabe und der Notwendigkeit, den Menschen zu helfen. Und Sie hatten und haben das, was Voraussetzung und Grundlage für ein solches Engagement sind, nämlich: Zivilcourage.
Zivilcourage ist nicht alltäglich und nicht überall anzutreffen. Die Normalität des menschlichen Verhaltens ist eher Anpassung und Unterordnung, nicht nur in autoritären sondern auch in freiheitlichen Systemen. Gleichgültigkeit ist dafür die Grundlage. Zivilcourage beginnt dort, wo man die Dinge nicht einfach laufen läßt sondern sich einmischt und sie führt dort hin, wo man einer Entwicklung entgegentritt, so, als würde man in die Speichen eines rollenden Wagens greifen, also Widerstand leistet. Wo man Lüge Lüge und Unrecht Unrecht nennt und eintritt für Wahrheit, Recht, Freiheit und Menschenwürde.
In diesen Dingen – sehr verehrter Herr Professor Nesterenko – haben Sie uns mit Ihrem Handeln ein Beispiel gesetzt.
Die heutige Preisvergabe ist ein kleiner Dank für Ihr vorbildhaftes Handeln.
Ich möchte zum Schluß noch einmal einen Satz aufgreifen aus dem Zitat von Ihnen, das ich vorhin schon nannte; sie sagten damals: “Ich hatte für die Atomkraft gelebt, aber sie wird immer zu gefährlich sein”!
Dieser Satz fragt uns nach unserem heutigen Verhalten. Es ist gut – aber es genügt nicht, Nesterenko zu loben – wir müssen auch fragen, was wir heute tun.
Damals – nach dem Reaktorunfall am 26.4.1986 in Tschernobyl waren die Menschen auch hier geschockt und besorgt, als der Wind die radioaktive Wolke über große Teile Europas trug und niederregnete. Damals habe ich als Senator für Gesundheit im Senat veranlaßt, dass Lebensmittel untersucht wurden – insbesondere auf Cäsium 137 und Jod 131 – und es gab hohe Überschreitungen der Grenzwerte. Wir haben vor dem Verzehr bestimmter Gemüsearten sowie vor Milchprodukten gewarnt, haben Sportplätze untersucht und Sandkisten ausgewechselt. Teilweise versuchten wir damals auch, an den Ursachen etwas zu ändern und haben im Senat den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen und damit einen Stein in`s Rollen gebracht.
Vieles davon, ist schon in Vergessenheit geraten und als in den Jahren danach die Gefahr geringer wurde, wieder zu den Akten gelegt worden.
Aber es haben sich – trotz allem – die Dinge doch tiefgreifend verändert – auch wenn sich der Wind noch nicht vollständig gedreht hat. Auch der weiterhin gültige Ausstieg aus der Atomenergie in der Bundesrepublik Deutschland wäre ohne Tschernobyl und der Sensibilität der Bevölkerung nicht möglich gewesen. Und noch eines hat sich inzwischen verändert: Die Entwicklung alternativer Energien ist so weit fortgeschritten, dass in absehbarer Zeit der Energiebedarf aus erneuerbaren Energiequellen gedeckt werden kann. Das Solarzeitalter ist bereits angebrochen. Die konkreten Vorschläge und Forderungen für die Energiewende liegen auf dem Tisch; es liegt am politischen Willen, sie umzusetzen. Wir können uns die Risiken radioaktiver Strahlungen – sei es durch Unfälle wie in Tschernobyl, durch Wiederaufbereitung der Brennstäbe oder durch die Endlagerung – ersparen; ohne Atomenergie ist die Welt sicherer und die Menschen leben gesünder.
Diese Entwicklung einer Energiewende wurde möglich durch das Engagement vieler Bürgerinnen und Bürger, Initiativen und Organisationen an vielen Orten der Welt; Wassilij Nesterenko steht auch dafür heute im Mittelpunkt und wird mit dem Bremer Friedenspreis der Stiftung Die Schwelle geehrt.
Deshalb danken wir Ihnen, sehr verehrter Herr Professor Nesterenko, für Ihren unermüdlichen Einsatz, für Ihr unerschrockenes Engagement für die Menschen nach der Katastrophe von Tschernobyl.
Ihr Handeln ist beispielhaft, Sie sind uns ein Vorbild.
Unseren Dank und die Anerkennung für Sie können wir am wirksamsten dadurch aussprechen, dass wir Ihnen nacheifern und Ihrem Vorbild folgen.
Vielen Dank und Herzlichen Glückwunsch.
Bremen, den 25.11.2005
Herbert Brückner
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