Start :: Informationen :: Eine Jugendliche aus der Zone berichtet
Das war vor 20 Jahren. 70 Kilometer von meinem Wohnhaus entfernt ist am 26. April 1986 der Reaktor von Tschernobyl explodiert. Was dann geschah, kenne ich nur aus Erzählungen meiner Eltern, Nachbarn und Verwandten.
In den ersten Tagen wusste niemand etwas, aber Gerüchte machten die Runde. Am 1. Mai mussten noch alle zu den sowjetischen Paraden, ein paar Tage später wurden alle Kinder evakuiert. Den ganzen Sommer waren sie weg, in Ferienlagern irgendwo in der großen Sowjetunion. Es muss schlimm gewesen sein, als die Kinder abtransportiert wurden. Viele haben geweint und niemand wusste, ob und wann die Kinder zurück kommen würden. Junge Soldaten sind gekommen und hatten angefangen Häuser mit Wasser abzuspritzen, Böden umzugraben, Strassen neu zu teeren. In stark verseuchten Gebieten wurden viele Häuser vergraben. Wie man jetzt weiß haben zwischen 800 000 und 1 Mio. Menschen, sogenannte »Liquidatoren«, bei den Aufräumarbeiten direkt am Reaktor und in unserer Region geholfen. Später sind sie wieder zurück in alle Teile der Sowjetunion. Was aus ihnen geworden ist, ob sie schlimm krank geworden sind, das weiß niemand.
Das besondere an der Tschernobylkatastrophe ist: sie nimmt kein Ende, zumindest nicht solange ich leben werde. Wie soll auch eine Katastrophe enden, wenn im Jahr 25986 immer noch 50 % des hochgiftigen Plutoniums bei uns auf den Äckern, Wiesen und im Wald liegt?
Wie Cäsium, Strontium oder Jod ist auch Plutonium damals aus dem zerstörten AKW entwichen. Es hat eine Halbwertszeit von 24 000 Jahren. Alle Katastrophen gehen zu Ende, unsere aber nicht. Vielleicht vergisst man die Gefahr gerade deswegen so gerne, zumal man Radioaktivität nicht schmecken, riechen oder hören kann. Nur durch das Klickern des Geigerzählers ist sie zu erkennen und durch die vielen Menschen die langsam krank und kränker werden.
Mich macht heute eine
Katastrophe krank, die
zwei Jahre bevor ich
geboren bin, passiert ist.
In meinem Land Weißrussland leben 10 Mio. Menschen, fast 2 Mio. davon auf radioaktivem Boden, darunter sind 400 000 Kinder. Nur 135 000 Menschen wurden damals in saubere Gebiete umgesiedelt, weit weg von ihren Heimatdörfern, die sie nie wieder betreten dürfen, weil sie zu stark verstrahlt sind. Wobei, einige Omas und Opas sind heimlich zurück gekommen und leben nun ohne Strom, Post und Nachbarn in ihren Dörfern. Sie hatten es in der Fremde vor Heimweh einfach nicht ausgehalten. Aber auch die Ukraine und Russland sind betroffen. Insgesamt haben über 500 000 Menschen ihre Heimat durch Tschernobyl verloren.
Krank werden wir durch das was uns eigentlich Kraft geben sollte, durch das Essen. Das meiste, das wir essen, holen wir aus dem eigenen Garten oder sammeln wir im Wald – und das ist verstrahlt.
Saubere Nahrung ist schwierig zu bekommen, ausserdem reichen die Löhne dafür nicht. Auf dem Lande verdienen die Menschen zwischen 60 und 140 Euro im Monat. Davon kann man auch in Weißrussland nicht viel kaufen.
Vor allem Milch, Pilze,
Beeren und Fleisch sind
stark verstrahlt.
Meine Cousine lebt in einem kleinen Dorf. In ihre Schulen gehen heute noch 62 Kinder, vor der Katastrophe waren es über 140. Die Menschen haben Angst Kinder zu bekommen. Es werden immer weniger. Viele Kinder sind krank und immer träge. Die Trägheit nennen wir »Tschernobyl-Aids«, weil die Strahlung das Immunsystem schwächt. Das führt dazu, dass die Kinder immer wieder längere Zeit krank werden. Zu Schuljahresbeginn machen alle Kinder in dem Dorf meiner Cousine einen Test. Nach dem Test wird bestimmt, ob die Kinder den normalen Sportunterricht mitmachen können oder den leichteren. Oder ob sie so schwach und krank sind, dass sie gar keinen Sport machen dürfen.
Geschockt war ich, als ich von einem Professor aus Minsk (unserer Hauptstadt) gehört habe, wie groß das Ausmaß der Erkrankungen ist. Medizinische Untersuchungen haben nachgewiesen, dass die Strahlung die Organe der Menschen angreift. Die Nieren werden geschädigt. Das Nervensystem wird angegriffen. Kinder im Alter von 12 Jahren leiden unter Bluthochdruck. Gastritis ist bei den Kindern häufig festzustellen und es besteht eine grosse Gefahr Magendarmkrebs zu bekommen. Eine hohe Cäsiumbelastung kann zum Grauen Star und zur Sklerose der Blutadern im Auge führen.
Nach offiziellen Angaben hat sich in Weißrussland die Anzahl der gesunden Kinder von 85% (im Jahr 1985) auf 20% (im Jahr 2000) verringert. Betroffen sind vor allem die Kinder, weil sie durch den schnelleren Stoffwechsel 3 – 4 mal mehr Strahlung im Körper einlagern. Das wird auch in den nächsten Jahrzehnten so weitergehen.
Die Krebsrate bei Kindern und Erwachsenen steigt sehr stark. Alleine an Schilddrüsenkrebs sind bisher 1700 Kinder operiert worden. Frauen bekommen nun doppelt so häufig Brustkrebs wie vor 1988. Die Zahl der missgebildet geborenen Kinder steigt stetig. Wissenschaftler sagen, dass bisher 70 000 Menschen an den Folgen von Tschernobyl gestorben sind.
Noch mehr hat mich aber geschockt, dass man etwas tun kann, um sich möglichst gut vor der Strahlung zu schützen. Bei uns weiß davon aber fast niemand wirklich etwas.
Der Professor aus Minsk, er heisst Nesterenko, hilft den Menschen in den Dörfern. Er sammelt Spenden im Ausland und richtet damit in den Dorfschulen Messstellen ein. Dort können die Menschen ihre Lebensmittel messen lassen. Manche sind stark verstrahlt, manche weniger. Die Leiter dieser Messstellen, das sind Lehrer die extra ausgebildet werden, können dann die Menschen beraten. Auch erklären sie, wie man Lebensmittel säubern kann. Wenn man z.B. Kartoffeln oder Pilze in Salzwasser einlegt, dann wandert ein Teil der Radioaktivität des Cäsiums aus dem Essen in das Wasser. Oder, wenn man Milch zu Butter oder Sahne weiter verarbeitet, dann ist in der Sahne oder Butter kaum noch Radioaktivität. Die ist dann in dem Restwasser der Milch.
In dem Dorf meiner Cousine hat der Leiter der Messstellen festgestellt, dass die Milch sehr stark verstrahlt ist, so wie in über 1000 anderen Dörfern, wie der Professor erzählt hat. Als ein Mitarbeiter seines Instituts zu Besuch kam, hat er sich die Wiese zeigen lassen, auf denen die Leute ihre Kühe gemeinsam weiden. Er hat dann erklärt, dass diese Wiese besonders feucht ist und das sich da mit dem Wasser damals besonders viel Radioaktivität gesammelt hat. Die Menschen haben dann mit der Kolchose gesprochen und für ihre Kühe eine andere Wiese bekommen. Die Milch ist nun viel sauberer.
Ich bin in einer Jugendorganisation aktiv und habe meinen Freunden davon erzählt. Wir waren auch schon mehrmals zu Tschernobyl aktiv geworden. Wir hatten mit einem Messgerät am Bahnhof von Gomel Lebensmittel gemessen, wenn die Menschen am Sonntagabend mit ihrem Gemüse aus den Schrebergärten zurück gekommen sind. Am Jahrestag von Tschernobyl hatten wir Bäume gepflanzt oder Müll gesammelt. Einmal hatten wir am Jahrestag über das Internet Kontakt zu Jugendlichen aus anderen Ländern aufgenommen, um über Tschernobyl zu berichten.
Nun wollten wir wieder etwas machen. Wir hatten die Idee die Menschen zu befragen. Wir wollten wissen, was sie über Tschernobyl wissen und was sie tun um sich zu schützen.
Wir haben einen Fragebogen gemacht. Die Fragebögen haben wir in sechs Dörfern verteilt. Wir haben 72 % der Fragebögen ausgefüllt zurück bekommen. Das war schon mal ein tolles Ergebnis. Bei der Auswertung haben wir aber gemerkt, wie wenig die Menschen darüber wissen, was sie selber tun können.
Daraufhin haben wir in den Dörfern Informationsmaterial vom Professor verteilt. Aber die Leute lesen nicht viel. Sie nehmen die Zettel, nehmen sich vor was zu ändern im Leben und dann passiert doch wenig.
Das zu merken war ziemlich frustrierend. Wir wollen aber nicht aufgeben, sondern möchten in einem Dorf ein Projekt starten und die Menschen wirklich aufklären. Wir wollen mit ihnen diskutieren und durch unterhaltsame Aktionen die Leute aufrütteln. Ausserdem wollen wir den Professor ins Dorf holen und auch eine Messstelle eröffnen. Für all das aber brauchen wir Geld. Solch eine Messstelle z.B. kostet 1238 € im Jahr.
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