Start :: Informationen :: Unterwegs in der verstrahlten Zone
Von Achim Riemann und Micha Halfwassen
Regen prasselt an die Windschutzscheibe des Kleinbusses. Die Räder wühlen sich durch den Schlamm. Wir fahren durch ein weißrussisches Dorf in der radioaktiven Zone: Ein paar hundert Menschen wohnen hier. Keinen Laden, aber eine Schule gibt es. Rund 200 Kilometer sind es von hier bis zum Tschernobylreaktor.
Eigentlich kommt mir alles ganz normal vor. Schließlich kann ich die Radioaktivität nicht schmecken oder sehen. Aber jede Mahlzeit ist für die Menschen eine Katastrophe. Rund 90 Prozent der Radioaktivität nehmen die Menschen hier heute über die Nahrung auf.
Die kommt zum größten Teil aus dem eigenen Garten, aus Wald und Fluss. An den Kauf von sauberer Nahrung ist bei den niedrigen Löhnen nicht zu denken. Auch wegziehen kann man nicht so einfach. »Man kriegt woanders keine Wohnung und auch keine Arbeit«, erzählen die Menschen. Nahezu fünf Millionen Menschen teilen in Weißrussland, Russland und der Ukraine das gleiche Schicksal. Sie leben in der Tschernobylzone.
Wir besuchen die Dorfschule. Hier treffen wir Irina, eine engagierte Lehrerin. Sie zeigt uns stolz jeden Raum und führt uns zusammen mit der Schulkrankenschwester Marina in eine Klasse. Sie erläutert uns die Messergebnisse, die jedes Kind in sein Schulheft eingetragen bekommt. Das unabhängige Institut BELRAD aus Minsk arbeitet mit der Schule zusammen. Alle drei bis vier Monate kommt ein Wagen mit einem »Messstuhl« in das Dorf, mit dem die Strahlung im Körper der Kinder gemessen wird. Die Strahlenbelastung war anfangs sehr hoch, doch das Institut hat einen Partner in Deutschland gefunden.
Spenden aus Deutschland machen es möglich, sie mit Pektin-Präparaten zu versorgen. Das Präparat wird aus Apfelpektin hergestellt und mit Vitaminen angereichert. In Wasser aufgelöst wird es von den Kindern getrunken.
Pektine quellen im Magendarmtrakt auf. Beim Aufquellen entwässert die Pektinmasse den Verdauungstrakt, nimmt das radioaktive Cäsium 137 auf und wird auf natürlichem Wege über den Stuhlgang ausgeschieden.
Innerhalb eines Monats sank die Strahlung der Kinder um rund ein Drittel. Die Strahlenwerte sind bei allen Kindern seit der ersten Messung gesunken, nur bei Dascha nicht. Eine Studie des Forschungszentrums Jülich belegt die Wirksamkeit der Pektinkur und bestätigt, dass es keine negativen Nebenwirkungen gibt.
Schwester Marina ist streng: »Ihr seht, Kinder, wenn eure Eltern darauf achten, was ihr esst, dann geht die Radioaktiviät in eurem Körper zurück. Dascha, warum sind die Werte bei all Deinen Mitschülern gefallen, nur bei Dir nicht? Hat Deine Mutter etwa Pilze oder Waldbeeren in der Küche verwendet?« Etwas verstohlen erzählt Dascha: »Ja, meine Mutter hat aus Beeren Kompott für uns gemacht und Pilzsuppe gab es auch.«
Krankenschwester Marina zeigt uns die Strahlenmessstelle, in der sie kostenlos die Lebensmittel der Leute misst. Sie legt eine Probe mit Beeren aus dem Wald, der das Dorf umsäumt, in das Gerät. Der Apparat zeigt blinkend einen für uns nichtsagenden Wert an. Marina erklärt uns: »Die Beeren überschreiten den Grenzwert um das 32-fache.« Da ist die Strahlung, hier zeigt sie sich, wenn auch nur in Zahlen.
Aber die Lehrerin berichtet sehr motiviert über ihre Arbeit. »Erst mal haben wir Elternabende in der Schule veranstaltet. Dort haben wir erklärt, was die Messstelle soll und was die Menschen an Unterstützung erwarten können. Ich habe auch erklärt, wie einfach es teilweise ist, die Lebensmittel von der Radioaktivität zu 'säubern'.« Wenn zum Beispiel Milch separiert wird, das heißt, wenn die eigentliche Milch von einem Großteil des Wassers in der Milch getrennt wird, dann bleiben die Radionuklide zu 90 Prozent in dem Wasser. Wenn die Sahne dann mit sauberem Wasser vermischt wird, bekommt man relativ saubere Milch. Viele solcher Tipps gibt es.
»Die Messungen machen wir mit den Schülern zusammen, damit sie möglichst viel über Radioaktivität lernen. Ein neues Projekt ist, dass ich mit den Schülern eine Strahlenkarte des Dorfes anfertigen möchte. So können wir genau herausfinden, wo der Boden wie stark verstrahlt ist«, berichtet die Lehrerin. Denn von Garten zu Garten schwankt die Radioaktivität erstaunlich stark. »Wenn wir die Verstrahlung kennen, können wir die Leute richtig beraten«, erklärt sie.
Wir verabschieden uns, der Regen hat aufgehört. Auf der Rückfahrt kommen wir an vielen Dörfern vorbei, die keine Strahlenmessstelle haben. »Es müsste mehr ausländische Unterstützung geben, dann können die Leute versuchen sich selbst zu helfen«, sagt unser Fahrer.
Startseite | Kontakt | Impressum | Letzte Änderung: 31. März 2006
Über uns • Projekte • Informationen • Unterstützen • Kontakt